Belgien, das für seine ikonische dreifarbige Flagge und den häufigen Regen bekannt ist, hat im juristischen Bereich, insbesondere im Familienrecht, weniger sichtbare, aber bedeutende Wellen geschlagen. In den letzten 25 Jahren hat eine Reihe von Gesetzen die belgische Rechtslandschaft verändert und einen Präzedenzfall geschaffen, auf den viele Länder mit Neid blicken.
Der Weg begann mit dem Gesetz vom 13. April 1995, das die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge auch nach der Trennung sicherstellte. Dieser entscheidende Schritt legte den Grundstein für eine Reihe von Reformen, die dem Wohl der Kinder und der Verantwortung der Eltern Vorrang vor der feindseligen Dynamik der Trennung einräumen sollten.
Im Jahr 2006 wurde ein Gesetz eingeführt, das ein gleichberechtigtes Sorgerecht vorsieht und damit einen bedeutenden Schritt in Richtung gemeinsamer Elternschaft darstellt. Dieses Gesetz ist nicht nur ein Rechtstext, es ist ein Statement, eine Philosophie, der viele Länder nacheifern wollen. Sie spiegelt die Überzeugung wider, dass beide Elternteile auch nach der Trennung in gleichem Maße am Leben ihrer Kinder beteiligt bleiben sollten, sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird.
Mit dem Gesetz vom 27. April 2007 wurde die verschuldensunabhängige Scheidung eingeführt, die wegen ihrer Schnelligkeit auch als „TGV der Scheidung“ bezeichnet wird. Sie ermöglichte es Paaren, sich innerhalb von drei Monaten scheiden zu lassen, wodurch die emotionalen und juristischen Auseinandersetzungen, die häufig mit der Auflösung einer Ehe einhergehen, erheblich reduziert wurden.
Eine der vielleicht bahnbrechendsten Reformen erfolgte 2013 mit der Einrichtung des Family and Youth Court Service (FYCS). Mit diesem Gesetz wurde der Grundsatz „eine Familie, ein Richter“ eingeführt, der das Gerichtsverfahren vereinfacht und alternative Methoden der Streitbeilegung fördert. Die Einrichtung von Kammern zur gütlichen Einigung, in denen ein Richter versucht, die Parteien innerhalb einer Stunde zu versöhnen, ist ein Beispiel für den innovativen Ansatz Belgiens.
Die Gesetze vom 15. und 18. Juni 2018 haben diesen Ansatz weiter gestärkt, indem sie Mediationsbemühungen vor Gerichtsverfahren vorschreiben und es Richtern ermöglichen, eine Mediation anzuordnen, auch wenn nur ein Elternteil sie beantragt. Diese Gesetze unterstreichen den Übergang von einer konfrontativen zu einer versöhnlichen Rechtskultur, in der der Schwerpunkt auf der Lösung und nicht auf dem Sieg liegt.
Das Gesetz über die gemeinsame elterliche Sorge ist ein Beweis für das Engagement Belgiens für das Wohl des Kindes. Es verlangt von dem Elternteil, der sich gegen eine gleichberechtigte elterliche Sorge ausspricht, den Nachweis zu erbringen, warum der andere nicht das Sorgerecht erhalten sollte, und kehrt damit die traditionelle Beweislast um und fördert die Gleichberechtigung.
Die belgischen Reformen haben zu einem deutlichen Rückgang der elterlichen Streitigkeiten geführt, und die Statistiken zeigen einen Anstieg der gemeinsamen Sorgerechtsregelungen. Das 2012 eingeführte Konsensmodell unterstützt diesen Trend weiter, indem es die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Eltern fördert.
Die Rolle des Familienrichters hat sich von der Rechtsprechung zur Versöhnung entwickelt, er unterstützt die Vorschläge der Anwälte und sorgt dafür, dass das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Die interaktive Rolle des Richters, die Beschränkung der schriftlichen Eingaben und die Betonung der Wahrung des Anstands im Gerichtssaal tragen zu einem positiveren und konstruktiveren Prozess bei.
Collaborative Expertise, eine weitere belgische Innovation, konzentriert sich auf die Zusammenarbeit der Eltern statt auf Konfrontation und trägt dazu bei, das Vertrauen und die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern wiederherzustellen.
Belgiens Erfolg mit diesen Reformen liegt nicht nur in den Gesetzen selbst, sondern auch in dem Mentalitätswandel, den sie darstellen. Regelmäßige Treffen zwischen Richtern, Anwälten, Mediatoren und Psychologen fördern ein einheitliches Konzept für das Familienrecht. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, zusammen mit ständiger Weiterbildung und Seminaren, stellt sicher, dass alle Fachleute in ihrem Auftrag, den Interessen der Familie zu dienen, übereinstimmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die belgischen Familienrechtsreformen unter Berücksichtigung der Entschließungen des Europäischen Rates einen neuen Standard für kindzentrierte, kooperative Rechtsverfahren gesetzt haben. Diese Reformen sind nicht einfach nur Gesetze; sie sind eine Vision für die Zukunft, ein Bekenntnis zum Wohlergehen der Kinder und ein Aufruf zum Umdenken zum Wohle der Familien weltweit.
Wenn wir über diese Veränderungen nachdenken, wird deutlich, dass die belgische Rechtslandschaft so dynamisch und fruchtbar ist wie der Regen, der die belgische Flagge ziert, und dass sie Perlen der Weisheit für die ganze Welt bereithält.
Richterin Marie-France CARLIER spricht von 5:13:50 bis 5:37:56.
Marie-France CARLIER – Richterin am Familiengericht – Dinant, Belgien – DOOR-Konferenz 2021
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